Ariella Kaeslin unterhält sich mit dem Sportpsychologen Philipp Röthlin, der sich in einem Forschungsprojekt mit der Frage beschäftigt, was uns zum Erfolg führt: Wenn wir lieb oder wenn wir hart zu uns selbst sind?
Ariella Kaeslin: Philipp, Du bist Sportpsychologe in Magglingen, arbeitest mit Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern. Und gerade beschäftigst Du dich mit einer hochinteressanten Frage, die weit über den Sport hinaus von Bedeutung sein könnte: Wann ist man erfolgreicher – wenn man lieb oder wenn man hart zu sich selbst ist? Ich glaube, die Antwort für mich zu kennen, aber erzähl mir doch mehr von deinem Projekt.
Philipp Röthlin: Was ist denn deine Antwort?
Ariella Kaeslin: Ich denke, dass ich nie so weit gekommen wäre, wenn ich nicht immer wieder richtig hart mit mir ins Gericht gegangen wäre, mich gequält, gegeisselt, schlechtgemacht hätte.
Philipp Röthlin: Das ist interessant. Wir stehen erst am Anfang des dreijährigen Forschungsprojekts, aber das, was Du sagst, ist ein wichtiger Grund, warum wir uns mit dem Thema befassen wollen.
Ariella Kaeslin: Inwiefern?
Philipp Röthlin: Es geht um self-compassion, Selbstmitgefühl, also darum, wie Menschen mit sich selbst umgehen. Self-compassion ist ein etabliertes Konzept in der klinischen Psychologie, man weiss, dass es für die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden gut ist, wenn man mit sich selbst freundlich und mitfühlend umgeht. Nun ist es aber so, dass gerade Sportlerinnen und Sportler eher skeptisch auf diese Erkenntnis reagieren, genau wie Du. Sie denken, wenn sie nett zu sich selbst sind, können sie nicht mehr erfolgreich sein. Sie sagen: «Ich brauche das Selbstkritische, um Leistung zu erbringen oder das Training durchzustehen.»
Ariella Kaeslin: Du glaubst, diese Leute liegen falsch?
Philipp Röthlin: Das wollen wir herausfinden. Macht es Sportlerinnen und Sportler wirklich schlechter, wenn sie umsichtiger mit sich selbst umgehen? Untergräbt ein mitfühlender Umgang mit sich selbst die Motivation, besser zu werden?
Ariella Kaeslin: Ich kenne kaum Spitzensportlerinnen und Spitzensportler, die nett zu sich selbst sind. Woran könnte das liegen?
Philipp Röthlin: Ich denke, es hat ein Stück weit mit dem Sportsystem zu tun: So, wie mit dir umgegangen wird, gehst Du irgendwann auch mit dir selbst um. Aber versteh mich nicht falsch: Mit Selbstmitgefühl ist nicht gemeint, dass man auch mit der Hälfte des Trainings zufrieden sein soll. Es geht um eine selbstunterstützende Haltung, aber verbunden mit der Idee, das eigene Potenzial auszuschöpfen.
Ariella Kaeslin: Damit man sein Selbstwertgefühl nicht an die Leistung knüpft?
Philipp Röthlin: Genau. Wenn Du dein Selbstwertgefühl an äusseren Faktoren festmachst, fällt es dir extrem schwer, dich mit deinen Schwächen zu befassen – denn Schwächen wirken bedrohlich auf das Selbstwertgefühl. Dabei ist doch genau das entscheidend, wenn man besser werden will: Dass man sich mit seinen Schwächen auseinandersetzt. Wenn Du mitfühlend dir selbst gegenüber bist, wenn Du dich akzeptierst und sagen kannst: «Ich bin ok, wie ich bin, unabhängig davon, was ich leiste» – dann schaffst Du ein inneres Umfeld, das es dir ermöglicht, an deinen Schwächen zu arbeiten. Und zwar ohne dass Du dich damit runterziehst oder Du dich vor Kritik schützen musst.
Ariella Kaeslin: Es gibt wohl kaum einen Lebensbereich, in dem das nackte Resultat, der äussere Wert entscheidender ist als im Sport. Alles, was man im Sport ist, ist man seiner Leistung wegen.
Philipp Röthlin: Ja, der Sport ist der Ort, wo deine Leistung ständig gemessen wird, wo Du dich ständig mit anderen vergleichen kannst, wo Du ständig Ansprüchen sowohl von dir selbst als auch von aussen ausgesetzt bist. Darum finde ich es so interessant, die Frage nach dem Wert des Selbstmitgefühls im Sport zu untersuchen. Angenommen, eine Person ist komplett zufrieden mit sich selbst – macht diese Person dann überhaupt noch Spitzensport?
Ariella Kaeslin: Das ist genau mein Punkt. Ich glaube, jede Spitzensportlerin, jeder Spitzensportler hat irgendwo ein Defizit. Ein ausgeglichener Mensch braucht diese Quälerei nicht. Der ist zufrieden, wenn er in einem Café sitzen und mit Leuten plaudern kann.
Philipp Röthlin: Ich schliesse nicht aus, dass es mehrere Wege zum Erfolg gibt. Eigentlich halte ich es sogar für plausibel. Es gibt Menschen, die eher von sich heraus motiviert sind, das zu tun, was sie tun. Andere Menschen lassen sich stärker von äusseren Reizen leiten. Und natürlich hängt der Erfolg auch von deinem Können ab. Nur weil ich lieb zu mir selbst bin, heisst das noch nicht, dass ich Weltklasse-Turner werde. Es kann gut sein, dass auch jemand, der mitfühlend sich selbst gegenüber ist, Momente der Selbstkritik braucht, um sich anzutreiben und Grenzen zu überschreiten.
Ariella Kaeslin: Je länger Du darüber sprichst, desto plausibler erscheint mir, dass Du in einen Punkt Recht haben könntest. Wäre ich vielleicht noch erfolgreicher gewesen, wenn ich sorgfältiger mit mir umgegangen wäre? Hätte ich die Karriere nicht wegen eines Burn-outs beenden müssen, viel zu früh? Aber wenn ihr jetzt tatsächlich zum Schluss kommen solltet, dass Selbstmitgefühl ein auch im Sport funktionierendes Konzept ist – bräuchte es dann nicht einen regelrechten Paradigmenwechsel, damit die Erkenntnisse auch wirklich umgesetzt würden? Ich meine, das fängt ja im Kleinen an, im Kindertraining, überall auf der Welt werden Sportlerinnen und Sportler von Anfang an darauf geschult, dass nur harte Arbeit und Härte zu sich selbst erfolgsbringend sind. Sport heisst Leiden, sich Auskotzen, so ist das seit Jahrzehnten, zumindest in den typisch athletischen Sportarten, in den olympischen Disziplinen mit langer Geschichte.
Philipp Röthlin: Oh, das sehe ich genau so. Aber ich möchte noch einen Unterschied machen: Es ist für mich keine Frage, dass es für Topleistungen harte Arbeit braucht. Aber bedingt harte Arbeit auch Härte sich selbst gegenüber? Das ist für mich weniger eindeutig. Daraus folgen für mich zwei Fragen, die ich in unserem Projekt gern beantworten möchte. Erstens: Wenn wir hart zu uns selbst sind, weil wir glauben, dass uns das zum Erfolg führt – zu welchem Preis geschieht das dann? Und zweitens: Liessen sich die Leistungen allenfalls sogar steigern, wenn wir anders an den Sport herangingen? Vielleicht gibt es ja wirklich einen anderen Weg, einen respektvolleren den Sportlerinnen und Sportlern gegenüber. Ich fände das jedenfalls schön.