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Die Kombination macht’s aus

Ich weiss noch, wie ich weinte, wenn wir im Kunstturnen den Spagat trainierten. Ich weinte immer wieder, die anderen Mädchen weinten ebenfalls, und manchmal weinte ich auch, als ich schon viel älter war. Wir sassen minutenlang im Spagat, völlig regungslos, so wurde es von uns verlangt. Und wenn der Trainer fand, es müsse sein, setzte er sich auf uns drauf, um uns noch stärker zu dehnen.
Falls Sie sich fragen, warum ich mir das so viele Jahre lang gefallen liess: Weil uns eingetrichtert wurde, dass das nötig sei, um an die Spitze zu gelangen.

Sicher: Kunstturnen ist ein elender Kampf, nur in den seltensten Fällen erlebt man Momente der Leichtigkeit. Aber heute weiss ich, dass man uns zumindest diesen Teil des Kunstturntrainings hätte ersparen können, ohne dass wir an Leistungsfähigkeit eingebüsst hätten. Das lernte ich kürzlich in meiner Physiotherapieausbildung, die ich letzten Herbst im Anschluss an mein Studium in Sportwissenschaften begonnen habe.

Sich vor oder nach einem Training zu dehnen mit dem Ziel, sich aufzuwärmen oder zu entspannen, ist noch einmal ein anderes Thema (allerdings ebenfalls eines, in dem viel altes Trainingswissen längst überholt ist). Ich spreche von dem Dehnen, das man zum Zweck einer gesteigerten Beweglichkeit ausführt. Hier weiss man heute, dass es nichts bringt, sich bloss zu strecken. Selbst wenn man die Position allenfalls minimal zu verlängern vermag: Wenn man sie im Ernstfall nicht stabilisieren kann, steigt höchstens die Verletzungsgefahr, sonst genau nichts.

Der Trick besteht darin, dass man das Dehnen mit Krafttraining kombiniert. Man begibt sich nicht passiv in die erstrebenswerte Position, zum Beispiel den Spagat, sondern aktiv, zum Beispiel mit sogenannten Spagatsprüngen. Bei genügend Wiederholungen führt man so nicht nur eine Verlängerung der Muskeln herbei, sondern erreicht auch, dass die Muskeln die Kraft erlangen, die sie benötigen, um die gestreckte Position halten zu können. Dies gilt nicht nur für extreme Positionen wie den Spagat, sondern auch für Alltagspositionen. Ein Beispiel dafür wären verkürzte Hamstrings. Viele Ausdauersportler, vor allem Läufer, leiden oftmals unter Verkürzungen dieser Muskelgruppe. Anstelle von minutenlangem Dehnen, kann ich dies einfach und schnell in mein Training integrieren, indem ich tiefe Squats mache. So bringe ich die hinteren Kniebeuger auf Dehnung, baue gleichzeitig aber auch Kraft auf, damit ich diese Position auch stabilisieren kann. Dehnung, Kraft und Verletzungsprofilaxe auf einen Schlag. Nicht schlecht oder?

Hätte ich das nur früher gewusst! Ich hätte mir und meinen Turnkolleginnen einiges Leid erspart. Zwar glaube ich nicht, dass Spagatsprünge zwingend vergnüglicher sind als das statische Üben des Spagats – sicher aber wäre es dem Trainer schwerer gefallen, sich auf uns zu setzen, wenn wir die ganze Zeit in der Halle herumgehüpft wären. Und vor allem, und darum geht es ja, hätte es wirklich etwas gebracht.