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Ich liebe Kunstturnen, aber es kann auch ein unendlich schrecklicher Ort sein

Im letzten Jahr wurde ich häufig gefragt, was ich über den Fall von Larry Nassar denke, den früheren Teamarzt der amerikanischen Turnerinnen, der über Jahrzehnte mehr als hundert Mädchen und junge Frauen sexuell missbraucht hat.
Ich sagte immer dasselbe: Dass ich keine Worte dafür habe. Dass es keine Worte gebe für das Elend, das Larry Nassar angerichtet hat. Dass ich erschüttert sei. Und dass ich mir nie in tausend Leben hätte vorstellen können, dass so etwas geschehen kann.

Seither hatte ich viel Zeit zum Nachdenken.

So traurig es ist: Heute glaube ich, dass das Kunstturnen als klassische Kindersportart genau die Struktur bietet, die so etwas möglich macht. Kunstturnen ist ein Milieu, in dem die Turnerin wenig zu sagen hat. Sie wird unterdrückt, hat Befehle auszuführen, und wenn sie aufmuckt, wird sie zum Schweigen gebracht.

Was Larry Nassar den Mädchen und jungen Frauen angetan hat, lässt sich mit nichts vergleichen. Aber auch ich und meine Kolleginnen im Nationalteam haben psychischen Missbrauch erlebt. Das war Mitte der 2000er-Jahre. Über Jahre behandelte uns der damalige Trainer wie Tiere. In seinen Augen waren wir Dreck, und weil wir zu jung waren, um zu verstehen, dass seine Meinung nicht zwingend die richtige sein musste, glaubten wir ihm. Niemand schützte uns, schon gar nicht der Verband. Erst als wir geschlossen gegen den Trainer aufbegehrten und die Öffentlichkeit davon erfuhr, sah der Verband sich gezwungen zu reagieren. Es war eine qualvolle Zeit. Ich glaube, dass damals etwas kaputt ging in mir, das bis heute nicht ganz geheilt ist.

Es muss alles getan werden, damit sich ein Horror, wie Larry Nassar ihn angerichtet hat, nicht wiederholt. Und es muss um jeden Preis verhindert werden, dass junge Kunstturnerinnen dasselbe erleben, was uns damals widerfahren ist. Es braucht Verbandsspitzen, die ihren Sportlerinnen glauben. Es braucht unabhängige Stellen, an die sich Sportlerinnen bei Problemen wenden können.
Aber ganz ehrlich: Ich weiss nicht, ob das genügt. Ich frage mich, ob Kindersportarten wie das Kunstturnen nicht immer prädestiniert sein werden für Missbrauch irgendwelcher Art. Ich bin da ziemlich ratlos, und ich bin auch ziemlich zerrissen – so sehr, dass es schmerzt: Ich liebe Kunstturnen, aber es kann auch ein unendlich schrecklicher Ort sein.