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Mein Mittelweg

Am schlimmsten war immer der Montag. Jeden Montag vor dem ersten Training der Woche mussten wir zur Gewichtskontrolle antraben und vor den Augen des Trainers auf die Waage stehen. Und wehe, wir hatten übers Wochenende zugenommen! Wenn doch, schickte der Trainer uns in Schwitzhosen und Schwitzjacke nach draussen, und wir mussten so lange durch den Wald rennen, bis wir wieder unser Normalgewicht erreicht hatten.

Wobei – was heisst hier Normalgewicht? Normal war gar nichts, als ich noch Kunstturnerin war, schon gar nicht mein Verhältnis zum Essen. Klar muss man sich als Spitzensportlerin mit der Frage beschäftigen, was einem guttut und was nicht. Und klar muss man aufs Gewicht schauen. Aber das, wozu wir genötigt wurden – das war nur noch verrückt. Wir waren so jung, unser Verhältnis zu unseren Körpern war völlig gestört. Das ganze Wochenende über war ich voller Sorge, ich könnte bei der Gewichtskontrolle am Montag versagen. Eigentlich drehten sich meine Gedanken überhaupt die ganze Woche über bloss um eines: essen. Also eigentlich: nicht essen. Eine Pizza war nicht etwas, das ich mir ausnahmsweise erlauben und dann aber auch geniessen konnte. Eine Pizza war eine runde, giftige Kalorienbombe. Unser Trainer durchsuchte regelmässig unsere Schränke nach Süssigkeiten, und beim Mittagessen, das wir immer zusammen einnahmen, durften wir nicht einmal ein Stück Brot zu uns nehmen. Grad extra setzte der Trainer sich jeweils vis-à-vis von uns an den Tisch und stopfte seelenruhig und zufrieden Brot in sich hinein.

Als ich meine Karriere beendete, war ich in vielerlei Hinsicht mit den Möglichkeiten überfordert, die einem das Leben abseits des Spitzensports bietet. Eine war: der wahnsinnige Reichtum an Nahrungsmitteln. Wenn ich früher einkaufen ging, ignorierte ich das Regal mit den Süssigkeiten einfach. So musste ich mir nie sagen: Nein, heute gibt’s keine Schoggi. Aber jetzt, da ich all das ja essen durfte – wie sollte ich jetzt damit umgehen?

Zuerst nahm ich natürlich zu. Es war, wie wenn man ein Gummiseil spannt – und dann loslässt. Mein Körper hatte sich über die Jahre an so wenig Essen gewöhnt, dass er damit haushalten gelernt hatte. Jetzt bekam er plötzlich viel mehr. Und musste die Information, dass er immer wieder genug Nachschub kriegt, zuerst im wahrsten Sinn verdauen. Dass das funktioniert, hat mir eine Ernährungspsychologin einmal erklärt. Man machte Untersuchungen bei Kriegsveteranen, die durch eine Hungersnot gegangen waren: Als sie wieder normal essen konnten, legten sie zuerst Gewicht zu, aber nach einem oder zwei Jahren hatte sich der Körper wieder angepasst.

Kurz: Ich hatte meinem Körper viele Jahre lang zu wenig zu essen gegeben. Ich hatte nicht auf ihn gehört. Jetzt musste ich ihm Zeit geben. Und mir auch. Ich musste einen Mittelweg finden.

Denn mit dem Essen ist es wie mit dem Training: Zu viel ist nicht gut, zu wenig aber auch nicht. Das habe ich in meinem letzten Blog-Eintrag schon ausgeführt. Heute achte ich darauf, dass ich möglichst wenig Fleisch (nicht weil es mir nicht guttut, sondern aus moralischer Überzeugung) und möglichst nichts Verarbeitetes esse. Aber sonst geht alles. Einfach im Mass. Wir leben in einer Gesellschaft des Überdrusses, und es ist sicher nicht leicht, die Signale des Körpers richtig zu deuten. Aber wenn ich in meiner Karriere als Spitzensportlerin eines gelernt habe, dann das: Am schlimmsten ist es, wenn man sich gar nichts gönnt. Ein feines Essen kann ebenso wichtig sein wie ein gutes Training.

Wir leben nur einmal, und wir alle sterben irgendwann.