Nie im Leben hätte ich gedacht, wie schwer es mir fallen würde, meine Karriere zu beenden. Und damit meine ich nicht den Entscheid selbst, denn der wurde mir gewissermassen aufgezwungen: Ich war an einer Depression erkrankt und wusste, dass ich nur gesund werden kann, wenn ich den Rücktritt gebe. Das war im Sommer 2011. Was ich meine, wenn ich sage, dass es im Leben einer Spitzensportlerin kaum einen anspruchsvolleren Moment gibt als den Rücktritt, ist dies: Dass die grösste Herausforderung noch bevorsteht.
Kaum hatte ich tatsächlich ausgesprochen, dass ich ab sofort nicht mehr an Wettkämpfen teilnehme, fiel ich in ein noch tieferes Loch, als ich wegen der Depression ohnehin schon war. Alles, was meinem Leben bis hierhin einen Sinn gegeben hatte, war auf einen Schlag weg. Meine Tage hatten jede Struktur verloren, mir fehlte das Training, ich vermisste die Ziele. Ich zog aus meinem Zimmerchen in Magglingen aus und ging zurück nach Luzern, aber wusste nicht, was ich nun mit mir anfangen sollte. Ein Hobby? Ich hatte kein Hobby. Eine Ausbildung? Ich war so lange nicht mehr zur Schule gegangen. Freundinnen und Freunde? Ich hatte kaum Freundinnen und Freunde ausserhalb des Turnens. Wenn ich mich doch mit jemandem traf, rätselte ich, worüber wir reden könnten. Wie unterhält man sich, wenn man sich die letzten Jahre kaum gesehen hat? Es fehlte mir, mit meinen Turnkolleginnen einen „Kafi“ zu trinken und über den Trainer zu lästern oder vom letzten Wettkampf zu schwärmen. Ich kam mir klein vor, wenn ich mich mit Kolleginnen und Kollegen von früher traf, manche hatten das Studium bereits beendet, sie waren Ärztinnen und Ärzte geworden oder sonst etwas Eindrückliches. Ich kam mir so klein vor. Was hatte ich die letzten Jahre denn gemacht? Ich war Sportlerin gewesen. Ich brauchte lange, bis ich verstand, dass das eine Erfahrung ist, die auch im „normalen Leben“ zählen konnte.
Ich versuchte es mit allen möglichen anderen Sportarten, bloss als Freizeitbeschäftigung. Ich ging Rudern und in die Leichtathletik und versuchte es mit Triathlon und Langlauf. Aber überall war ich eine Anfängerin. Ich war mir gewohnt, Weltspitze zu sein.
Dann fing ich zu studieren an, Sport und Psychologie, meine Bachelorarbeit schrieb ich zu dem Thema, das mich nun seit 2011 beschäftigte: Wie ist es, die Sportkarriere zu beenden? Ich fand etwas Erstaunliches heraus: Dass es normaler ist, als ich gedacht hatte.
Vom Sport zurückzutreten ist wie arbeitslos zu werden oder sich pensionieren zu lassen. Das hängt mit den psychosozialen Funktionen der Erwerbsarbeit zusammen: Der Beruf verschafft einem eine Aktivität und ein Gefühl von Kompetenz. Die Zeit ist strukturiert, man funktioniert und gerät mit Menschen in Kontakt. Man erfährt soziale Anerkennung, hat eine persönliche Identität. All das, was essentiell ist für einen Menschen. Und all das fällt weg. Ich erfuhr, dass das in der Arbeitspsychologie ein grosses Thema ist. Wie bereitet man Menschen auf das Ende des Arbeitslebens vor? Man weiss, dass Männer damit tendenziell ein grösseres Problem haben als Frauen, weil sie sich stärker mit ihrem Beruf identifizieren.
Ich habe für meine Bachelorarbeit viel zu dieser Thematik gelesen, aber ich möchte euch etwas Persönliches erzählen: Nach allem, was ich erlebt habe, glaube ich, dass es uns ganz allgemein nicht schaden würde, wenn wir unsere innere Zufriedenheit nicht so sehr von äusseren Faktoren abhängig machen würden. Denn die fallen irgendwann weg, eine Sportkarriere geht ebenso sicher zu Ende wie ein normaler Beruf, bloss meistens etwas früher. Zurück bleiben wir, wir allein, als Menschen – und dann ist es gut, wenn wir Menschen an unserer Seite wissen, die uns etwas bedeuten, und wenn wir Glück aus uns selbst heraus zu schöpfen vermögen.